Jede Großstadt hat ihre eigene Geschichte, einen unverwechselbaren Puls und eine besondere Lebensart, die durch ihre Entwicklung bedingt ist.

Die Ballungsräume unserer Zeit sind lebende Organismen, die den Menschen gleichermaßen beherbergen und verschlingen.

Bauten skizzieren Stadtviertel, die zu Mikrokosmen werden. Ihre Häuser und Wohnblöcke sind kurzlebige, mutierende Zellen. Je weiter sie vom Kern (der Stadt) entfernt liegen, je mehr sie zur äußeren Membran der pulsierenden Materie - sprich der Peripherie - gehören, desto eher droht ihr Dasein einem durch Wachstum und politische Ideologien begründeten Wandel unterworfen zu sein. Es wird hochgezogen und wieder abgerissen, um neu aufzubauen. Eine urbanistische  Vision folgt der nächsten - und zerschellt. Das Stadtbild leidet. Und alles beginnt von vorne ... Die Landschaft zeigt sich instabil.

Yohanne Lamoulère beleuchtet dieses Phänomen mithilfe ihrer Fotografien. Sie beschäftigt sich mit den jüngsten Trends zur Neugestaltung der Vororte und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Anwohner. Die Konzepte dieser Veränderungen sind meist umstritten, da sie nicht aus dem Gebiet selbst erwachsen sind, sondern einfach übertragen, auferlegt oder aufgezwungen wurden. Wenn der öffentliche Raum nicht länger ein gemeinschaftlich definierter Ort des Beisammenseins ist, wird die Stadt zur Täuschung - „Ici ment la ville"!

Wie lebt es sich in einem solch trügerischen Milieu? Ist es noch erträglich oder angemessen für den Menschen, der seinen Platz finden muss, um nicht in der anonymen Masse unterzugehen?

Jeder von uns muss im Laufe seines Lebens die eigene Individualität behaupten. Dabei gründet die Suche nach sich selbst auch in der lokalen Verwurzelung und dem Bedürfnis, sich mit seinem Umfeld und seiner Umgebung zu identifizieren. Die Selbstwahrnehmung ist ein unfertiges Werk, ein Prozess, im Entstehen begriffen ... Damit sie sich entfalten kann, bedarf es eines fruchtbaren Bodens.

„Aus der Form brechen. Gestalt verleihen."

Yohanne Lamoulère erzählt in Bildern von diesem Bedürfnis des Einzelnen: Verwirrung stiften, der Lüge die Stirn bieten, vordefinierte Normen aufbrechen, gegen den Strom schwimmen. Kurzum: leben.

Text: A. Meyer / Clervaux - cité de l'image
Übersetzung: S. Cremer

Yohanne Lamoulère (*1980) lebt und arbeitet in Marseille (Frankreich). Nach ihrer Jugendzeit auf den Komoren schloss sie 2004 ihr Studium an der École nationale supérieure de la photographie in Arles ab. Die Lieblingsthemen der Künstlerin, die Mitglied des Kollektivs Tendance Floue ist, sind die Peripherie der Städte und die Insularität in all ihrer Vielförmigkeit. 2018 erschien bei Le Bec en l'air „Faux Bourgs" mit ihren gesammelten Arbeiten über die Stadt Marseille. Lamoulère gehört auch dem Kollektiv Zirlib mit Regisseur Mohamed El Khatib an. 2021 bereitete sie ihren ersten Film vor: „L'œil Noir".

www.yohannelamoulere.fr

Ausstellungsansicht

Abbildungen © CDI 2021