Das Menschsein ist ein dynamischer Prozess, ein Wechselspiel von Umständen und Kontexten, die angegangen und überwunden werden wollen. Herausforderungen stellen sich in Form von Rätseln, die es zu lösen, Aufgaben, die es zu übernehmen, und Etappen, die es zu durchlaufen gilt. So entwickelt sich das Dasein weiter. Diese „Entwicklung" ist jedoch nicht mit einer „Revolution" gleichzusetzen. Sie kann durchaus auch im Stillen erfolgen, in der Intimität eines einzelnen Lebens, dem eines Menschen.

Eine Vielzahl an Strategien begünstigt den reibungslosen Ablauf dieses existenziellen Prozesses. Die des Fotografen Arno Rafael Minkkinen offenbart sich in einem Werk, das „Two Hundred Seasons" (1) umfasst.

Seine fotografische Arbeit wird häufig beschrieben als eine Inszenierung des menschlichen Körpers im Raum - Landschaftsaufnahmen, die den Körper des Künstlers (oder seines Modells) einverleiben, um in einen Dialog zu treten.

Die Fragestellung erfolgt auf mehreren Ebenen und schließt den Monolog nicht aus. Die Gegenüberstellung - Körper und Landschaft - wird bis zum Äußersten getrieben. Die menschliche Gestalt scheint Teil des Dekors zu werden. Es ist ein regelrechtes Eintauchen, das mitunter so weit geht, dass der Mensch in der Landschaft zu verschwinden droht. Wenn der Körper der eigentliche Gegenstand des Werks ist, weshalb bringt man ihn dann bis an die Grenzen seiner symbolischen Auflösung? Auf manchen Fotografien hebt sich der Körper deutlich vom Hintergrund ab, doch er evoziert etwas anderes und wird etwa zur Wolke, zum Stein oder zum Felsen ...

Er gibt seinen subjektiven Charakter auf, um in die Rolle eines Bildelements zu schlüpfen, und unterliegt als solches neuen Regeln: visuellen statt physikalischen Gesetzen.

„Aus der Form brechen." Ja, aber das alleine reicht nicht, da wäre der Prozess nur zur Hälfte abgeschlossen. „Gestalt verleihen" oder vielmehr „Gestalt annehmen" ist die logische Folge. Diese Taktik lässt sich in der Natur ebenso wie in militärischen Strategien wiederfinden. Das Verhalten bewegt sich zwischen Tarnung und Mimese. Dabei mutet es in der Natur und im Krieg nur weniger poetisch an als in der Kunst. „Verschwinden" um weiter zu existieren und das Überleben zu sichern - so der Grundgedanke ...

In der Romantik findet sich dieses Prinzip im Konzept der „Entgrenzung" wieder. Eine Person verleugnet ihre Identität bis zu dem Punkt, am dem sie als Mensch nicht mehr existiert. Der Moment ist von kurzer Dauer, aber lang genug, um das Selbstempfinden auszuschalten und etwas anderes zu werden - ein Teil der Landschaft? Dieses Verschmelzen mit der Natur, mit der Welt, hat eine überraschend paradoxe Wirkung. Sie führt zurück zu dem, was zu „zerbrechen" bereit ist : der Mensch. Ein starkes Gefühl, das ein geschärftes Bewusstsein mit sich bringt: Der Akteur wird zum Beobachter. Mit dieser neuen Perspektive erhalten die Ideen einen objektiven und freien Charakter. Die Gedanken lösen sich von ihrem Urheber, erfahren eine universelle Öffnung. Prioritäten verschieben sich, Hierarchien stehen Kopf. Die Bilder setzen sich neu zusammen, sie entziehen sich dem Offensichtlichen und werden aufschlussreich:

The secret of the world we are seeking must necessarily be contained in my contact with it. Inasmuch as I live it, I possess the meaning of everything I live." (2)

Zu einem solchen Ansatz braucht es Mut, denn er kommt einem Tauchen bis auf den Grund gleich. Das Gefühl und die Erfahrung, die sich daraus ergeben, müssen einzigartig und herrlich subjektiv sein.

(1) Keith F. Davis & Vicki Goldberg: Minkkinen, Kehrer Verlag Heidelberg Berlin, 2019: Seite 9
(2) Maurice Merleau-Ponty, The Visible and the Invisible (1964; Evanston: Northwestern University Press, 1968), Seite 32, zitiert von Keith F. Davis, Ibid., Seite 34

Text: A. Meyer, Clervaux - cité de l'image
Übersetzung: S. Cremer

Arno Rafael Minkkinen (*1945) lebt und arbeitet in Massachusetts und Finnland. Er wurde in Finnland geboren, wanderte aber 1951 in die Vereinigten Staaten aus. Anfang der 1970er Jahre studierte er an der Rhode Island School of Design. Heute ist er Professor für Kunst an der University of Massachusetts Lowell und Dozent an der Aalto-Universität in Helsinki. Weltweit veröffentlicht und ausgestellt, befinden sich Minkkinens Arbeiten in den großen Sammlungen des MoMA in New York, des Centre Pompidou und des Musée d'Art Moderne in Paris sowie des Tokyo Metropolitan Museum of Photography. Der finnisch-amerikanische Fotograf erforscht stets die Beziehung zwischen dem nackten Körper und der Umwelt. Seine Aufnahmen sind angesiedelt zwischen Selbstporträt und Landschaftsfotografie.

https://www.arnorafaelminkkinen.com/

Ausstellungsansicht

Abbildungen © CDI 2022 / Andrés Lejona