Erbgericht

Die Malerei hat gelernt, sich vom Zwang der Mimesis (1) zu befreien, um ihre schöpferische Kraft und ihren künstlerischen Stellenwert zu untermauern und ihre Existenz vor dem Hintergrund der zunehmend bedeutungsvollen Fotografie mit Nachdruck zu legitimieren. Letztere erhebt in ihren Anfangszeiten den Anspruch, die Welt besser als jedwedes andere Medium wiederzugeben. Doch auch die Fotografie - eher Bild als technisches Verfahren - sieht sich denselben ontologischen Fragestellungen ausgesetzt wie ihre Schwesterdisziplin.
Das Bestreben, die reale Welt darstellen zu wollen, wechselt mit der Herausforderung, das inhärente Potenzial des Mediums zu erforschen. Diese Perspektive der Introspektion stellt neue Weichen für die Fotografie, die sich somit als überragende Sprache definiert, welche die Welt besser erzählen als reproduzieren kann.

Die geometrischen Kompositionen der Künstlerin Andrea Grützner offenbaren geradlinige grafische Konstruktionen, deren Farben im harmonischen Wechselspiel beeindrucken. Gleiches gilt für die Kontraste. Die Aufnahmen zeigen gefärbte und texturierte Felder und Ebenen, die gewisse Bildmotive erahnen lassen und sich dabei dennoch abstrakte Züge vorbehalten. Die Schatten scheinen sich von den Gegenständen lösen zu wollen, die sie werfen. Sie werden zu bunten Flecken und heben sich nur durch den Grad ihrer Helligkeit von den angestrahlten Formen ab. Dieses Spiel der Schatten untergräbt die plastische Wirkung der Dinge zugunsten des grafischen Stils der Reihe. Die räumliche Tiefe wird optisch reduziert.

Und dennoch gehen die Bilder in die Tiefe: Konkreter Gegenstand dieses Werks ist ein Bau namens „Erbgericht" (2) - ein über hundert Jahre altes Gasthaus im ländlichen Sachsen, Deutschland. Das Gebäude hat eine beachtliche Geschichte, über Generationen hinweg spielte es eine bedeutende soziale Rolle. Zeit und Ereignisse sind mit seiner Infrastruktur verflochten. Spuren der Vergangenheit sind allgegenwärtig, Stile und Stoffe verschiedener Epochen fließen in diesen Mauern zusammen und erinnern an das Leben, das hier einmal pulsierte.

So wie das Gedächtnis Bilder anhand von Fragmenten rekonstruiert, setzen sich Fotografien aus Details zusammen. Die bewusst angeordneten Bildausschnitte haben als Serie einen kohärenten, narrativen Charakter. Zusammen ermöglichen sie einen Gesamteindruck der Lokalität - durch die symbolische Übersetzung der geschichteten und verdichteten Gestalt des Gebäudes. Die Fotografien bilden die zentralen Ebenen des Hauses ab. Indem der grafische Stil der wirklichkeitsgetreuen Illustration vorgezogen wird, wahren die Bilder ihre Autonomie, statt buchstäblich mit dem Objekt zu verschmelzen.

Text: Annick Meyer
Übersetzung aus dem Französischen von Sabine Cremer

(1) Rekonstruktion durch Imitation der Realität, der realen Welt
(2) ehemals im ländlichen Raum: Sitz eines Richters, der über das Brau- und Schankrecht verfügte und dessen Amt den Nachkommen vererbt wurde

www.andreagruetzner.de/erbgericht

Ausstellungsansichten

© CDI / Nico Patz